Nur keine Angst vor Berührung.

Teil 2 der Serie „Wheelday: mal nachgedacht“.

Bildqelle: Anonymus Account (via Flickr), CC BY 2.0.

 

Hey, ich bin Josefine!

 In dieser Serie widme ich mich Aspekten der Inklusion, Gleichstellung und Teilhabe. Am 5. Mai war der Europäische Aktionstag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung – mittlerweile zum 30. Mal. Anlässlich der IUFE-Initiative „Wheelday. Entwicklung bewegt!“ mit dem Jugend-Wettbewerb 2022 (Details und Einreichung: hier) zur Förderung von Inklusion und Barrierefreiheit teile ich mit dir meine Gedanken in drei Teilen. Dieser Artikel ist Teil 2. Hier knüpfe ich an Teil 1 (hier) an.

 

Buntheit erwünscht.

„Ich habe keine Macken, das sind special effects!“ leuchten die Worte auf der Freecard. Die strahlt in ihrem Kartenhalter durch den Gang der schummrigen Wiener Bar. In einer großen und diversen Stadt wie Wien scheint Platz zu sein für bunte Persönlichkeiten, schräge Vögel und einzigartige Schneeflocken. Außergewöhnlich und einzigartig zu sein, wird akzeptiert. Teilweise sogar erwünscht.

 

Der charismatische Überflieger, die leidenschaftliche Straßenmusikerin. Und der bunt gekleidete, ältere Herr, der sich in der Straßenbahnlinie 2 lauthals mit seinem Freund, dem Hansi unterhält. Zugegeben, Hansi ist für uns Außenstehende nicht sichtbar. Doch bei dem guten Gespräch stört das den bunten Herrn wenig. Für den älteren Herrn ist Hansi real. Diese besonderen Charaktere werden von den meisten Menschen toleriert und bringen Farbe in den Alltag.

 

Auffallen? Ja, aber bitte nicht negativ!

Doch sobald der charismatische Überflieger armutsbedingt auf der Straße landet, schwindet die Akzeptanz. Sobald die leidenschaftliche Straßenmusikerin spastisch gelähmt im Rollstuhl sitzt, schrumpft die Aufmerksamkeit. Sobald der ältere Herr seinen Freund Hansi anschreit und seine Tasche nach ihm wirft, machen sich Unsicherheit und Misstrauen in der Straßenbahn breit.

 

Ein Schlag auf den Kopf.

Ich erinnere mich noch gut. Es war einer der ersten Tage meines freiwilligen sozialen Jahr in der damaligen Wiener Sonderschule am Himmel. Ich war mit einem der Kinder allein im Klassenraum. Wirklich Konversation machen konnte ich nicht. Der Junge war gehörlos und ich konnte keine Gebärdensprache. Irgendwann drehte ich ihm kurz den Rücken zu und hörte daraufhin ein scharfes Peitschen und spürte einen harten Schmerz am Scheitel. Der Junge hatte sich eine herumliegende Holzlatte gegriffen und sie mir über den Kopf gezogen. Ich kann bis heute nur mutmaßen warum. Heute bin ich der festen Überzeugung, dass man nicht erst einen Schlag auf den Kopf bekommen muss, um von außergewöhnlichem Auftreten oder Besonderheiten im Alltag im ersten Moment intuitiv abgeschreckt zu sein.

 

Angst und Misstrauen vor dem Unbekannten.

Vorsicht bei Unbekanntem ist zutiefst menschlich. Die anfängliche Skepsis ist in Ordnung und angemessen. Niemand möchte von einem Wurfgeschoss, das in der Straßenbahn für Hansi bestimmt war, getroffen werden. Niemand will eine Holzlatte auf den Kopf bekommen. Niemand möchte sich distanzlos und peinlich berührt fühlen, weil die Parkbank nebenan einem Wohnzimmer des abgestürzten Überfliegers gleicht. Doch so sehr eine gesunde Skepsis und Wohl-Überlegtheit schützt. So sehr eine anfängliche respektvolle Distanziertheit angemessen ist. So verhindern sie im Übermaß offenen Austausch, Inklusion und ein gutes Miteinander.

 

Unsicherheit abbauen.

Je besser wir Dinge und Menschen kennen, desto weniger skeptisch sind wir – tendenziell. Je früher wir also mit „außergewöhnlichen“ Menschen konfrontiert sind und je alltäglicher Menschen mit besonderen Bedürfnissen für uns sind, desto weniger sind wir überfordert, wenn sie uns begegnen. Wer von uns als Kind bereits mit dem Nachbarsjungen mit Trisomie 21 spielt oder für wen eine psychische Erkrankung genauso eine Erkrankung ist wie Mittelohrentzündung, begegnet Menschen mit besonderen Bedürfnissen tendenziell selbstverständlich auf Augenhöhe. Die Grundlage sind also Offenheit und die Bereitschaft für einen gemeinsamen Austausch. So wird Inklusion möglich.

 

Konnex zu den SDGs (Auswahl):

  • Das Motto der SDGs lautet "leave no one behind - lasse niemanden zurück"
  • SDG 3 „Gesundheit und Wohlergehen“ (Unterziel 3.8 Die allgemeine Gesundheitsversorgung für alle erreichen)
  • SDG 8 „Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum“ (Unterziel 8.5 produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle Frauen und Männer, einschließlich junger Menschen und Menschen mit Behinderungen)
  • SDG 10 „Weniger Ungleichheiten“ (Unterziel 10.2 alle Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, Behinderung, Rasse, Ethnizität, Herkunft, Religion oder wirtschaftlichem oder sonstigem Status zu Selbstbestimmung befähigen und ihre soziale, wirtschaftliche und politische Inklusion fördern)
  • SDG 11 „Nachhaltige Städte und Gemeinden“ (Unterziel 11.2 Den Zugang zu sicheren, bezahlbaren, zugänglichen und nachhaltigen Verkehrssystemen für alle ermöglichen, Unterziel 11.3 Die Verstädterung inklusiver und nachhaltiger gestalten)
  • SDG 16 „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“ (Unterziel 16 b Nichtdiskriminierende Rechtsvorschriften und Politiken zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung fördern und durchsetzen)

 

Hinweis: Wheelday. Entwicklung bewegt!“

Mit der Initiative "wheelday. Entwicklung bewegt!" möchte das Institut für Umwelt, Friede und Entwicklung (IUFE) auf die Situation und Anliegen von Menschen mit Behinderungen weltweit aufmerksam machen. Beim wheelday-Jugend-Wettbewerb 2022 werden Aktivitäten und Projekte, welche einen Beitrag zur Inklusion und Barrierefreiheit in Österreich und der Welt leisten. Teilnehmen können bis 12. September 2022 engagierte Einzelpersonen, Schulklassen, Vereine, Jugendgruppen und Organisationen. Die 17 SDGs (Ziele für nachhaltige Entwicklung) bilden den Rahmen. Details zum Wettbewerb: hier.

 

Zur Person: Josefine Tacha ist ausgebildete Sozialpädagogin. Aktuell arbeitet sie in einer Wohngemeinschaft für Erwachsene mit Behinderung und (ehrenamtlich) in einer Dauerherberge für alkoholkranke Obdachlose. Abgesehen von Menschen ist ihr die Natur wichtig. Daher geht sie gerne Wandern und Radfahren und studiert „Umweltbildung und Beratung“ auf der Hochschule für Agrar- und Umweltpädagogik. Diese Serie entstand im Rahmen ihres Praktikums im IUFE im Frühjahr 2022.